Franz‘ Kapelle
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Re: Franz‘ Kapelle
In seinen Briefen an die Galater und an die Römer zeigt Paulus, wie die Pharisäer, die eine wichtige Gruppe im Judentum darstellten, unfähig sind, sich durch das Gesetz Mose zu heiligen. Das Gesetz bietet ihnen ein so forderndes und so kompliziertes ethisches Programm an, dass es ihnen unmöglich ist, es mit ihren eigenen Kräften zu verwirklichen. Dies ist das Drama des Pharisäers: er findet sich einer hohen Aufgabe gegenüber, hat aber nicht die innere Kraft, sie zu erfüllen. Das Gesetz überläßt ihn einfach seinen eigenen Kräften, um sich selbst in der Treue vor dem Allheiligen Gott zu verwirklichen. In seiner Eigenschaft als Gesetz führt es ihn zu einer legalistischen Haltung, die durch die Leistung des Willens und eine mustergültige Treue gezwungen ist, sich selbst einen Heiligenschein der Gerechtigkeit zu verpassen, was allerdings nur eine Selbstrechtfertigung und Selbstverherrlichung ist.
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Re: Franz‘ Kapelle
Dies ist - und Paulus unterstreicht es mit polemischer Vehemenz - der religiösen Haltung des Christen, der eingeladen ist, seine Erlösung und seine Treue von einem Anderen zu erwarten, von Grund auf entgegengesetzt. Der Pharisäer baut im Gegensatz dazu auf sich selbst, er muss sich selbst genügen, um heilig zu werden. Die Heiligkeit ist sein eigenes Werk. Er will sie durch seine eigenen Taten erlangen. Was ihn charakterisiert, ist die Suche nach Werken, in welchen man sich selbst genügt, was aber dem Christentum nicht entsprechen kann, da die christliche Liebe nur eine Antwort sein kann, eine Reaktion auf eine Tat, die Gott als Erster gesetzt hat und die durch die Gnade das menschliche Tun durchdringt. Tatsächlich machen das Geschenk Christi und das Geschenk Seines Geistes klar, wie sehr unsere Liebe vor allem in der liebenden Annahme und der gläubigen Hingabe besteht. In Christus hat sich, was unsere Beziehung zu Gott anbelangt, eine radikale Revolution vollzogen. Von nun an arbeitet Gott durch die menschliche Mittlerschaft Christi - des Weges, der Wahrheit und des Lebens - und des Heiligen Geistes, der uns in Überfülle geschenkt wird, wenn wir uns Ihm öffnen.
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Re: Franz‘ Kapelle
Paulus hat ganz tief begriffen und ganz fest angenommen, dass Christus gekommen ist, um das Gesetz als ein geschlossenes System der Selbstheiligung zu entlarven, und dass Er das Gesetz durch die Überfülle der Gnade vollendet hat, als Er die Ohnmacht des Gesetzes ans Kreuz genagelt hat, wie der heilige Paulus sagt. Zur radikalen Rückkehr zur Liebe als dem ersten und größten Gebot (was bei einem Gutteil des Volkes Israel in Vergessenheit geraten war) schenkt uns Jesus vor allem Seinen eigenen Geist in Überfülle, der uns die innere Fähigkeit verleiht, das neue Gesetz zu leben. Der Lebenshauch, durch den der Geist uns Seinen Antrieb gibt, heißt Gnade.
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Re: Franz‘ Kapelle
Die Gnade ist es, die uns heilig macht - und nicht mehr wir selbst, die das Gesetz mit unseren eigenen Kräften beachten müssen. Der Geist durchdringt unser Leben mit der Liebe, weil Er in unsere Herzen ausgegossen worden ist. Er drängt uns, uns dem Abba-Vater in Liebe zu nähern. Die Liebe Christi folgt uns nach - so lehrt es uns der heilige Paulus -, sie ist unendlich treu, und nichts kann uns von ihr trennen. Durch die Taufe erhalten wir Anteil an dieser erlösenden Gnade des Geistes Christi.
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Re: Franz‘ Kapelle
Die Gnade ist eine Initiative, die Gott setzt, und sie ist das Verdienst des Todes und der Auferstehung Jesu: durch die "pistis", den Glauben, öffnen wir uns ihr. Christus, die Gnade, der Glaube: dies ist die neue Achse, um die sich unsere christliche Heiligkeit dreht. Wir erlösen uns nicht selbst, Christus erlöst uns. Der Mensch ist schwach, aber in ihm offenbart sich die Gnade Gottes. In dieser Macht der Heiligkeit Christi kann der Mensch sich sogar seiner Schwachheit "rühmen". In Gott ist er stark in dem Moment, wo er seine Schwachheit erkennt. Denn dann befindet er sich in einer sehr günstigen Verfassung, um sich von sich selbst abzuwenden und für Gott zu öffnen.
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Re: Franz‘ Kapelle
In gewissem Sinn musste Thérèse sich ebenfalls mühsam ihren Weg durch dieses paulinische Problem hindurch bahnen. Ganz wie Paulus mußte sie durch den Mißerfolg zum Sieg kommen, durch das Scheitern der Selbstheiligung. Das erste Zusammentreffen von Paulus mit dem auferstandenen Christus machte auf sie einen unauslöschlichen Eindruck. Als Paulus, der "im Judentum die meisten seines Alters und seines Volkes an übergroßem Eifer für die Überlieferungen seiner Väter übertraf" (Gal 1,14 In der Treue zum jüdischen Gesetz übertraf ich die meisten Altersgenossen in meinem Volk und mit dem größten Eifer setzte ich mich für die Überlieferungen meiner Väter ein.), auf dem Weg nach Damaskus aus dem Sattel geworfen wird und zu Boden fällt, ist dies der Schock seines Lebens; noch mehr wird er aber im übertragenen Sinn des Wortes aus dem Sattel geworfen. Als er im Straßenstaub liegt, ist er sich dessen bewußt, dass er auch in moralischer Hinsicht auf der Erde liegt: "Weder ich noch das Gesetz hatten recht, sondern dieser Jesus, den ich verfolge ..." Es ist zugleich eine Nacht und doch auch ein Licht, ein Fiasko und eine Offenbarung, eine Krise und auch schon die Aussicht auf die Erlösung. Sein Fall ist der Anfang für eine fortschreitende Umkehr, in seinen Gedanken und seinen Empfindungen.
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Re: Franz‘ Kapelle
Auch Thérèse hat eine so tiefgreifende Wende erlebt. Eine erste Bekehrung ließ sie von einer idealen Heiligkeit träumen: "Die Liebe ohne jede andere Grenze als Dich..." Aber ihr Perfektionismus wird nach und nach zu einer Frage, die sie quält. Denn ständig vertiefen sich in ihr die Erfahrung ihrer Unzulänglichkeit und die Erkenntnis eines Gottes, der alles übersteigt. Das Ideal überholt sie immer mehr. Sie befindet sich unerbittlich vor einem Dilemma, dessen Lösung in beiden Fällen nur in der Kapitulation liegt. Entweder sagt sie sich: "Mein Traum von der unendlichen Liebe war eine Jugendillusion, die sich angesichts der Realität verflüchtigt; ich verzichte also auf mein Ideal, gebe mich mit weniger zufrieden, mäßige meine Wünsche..." Oder sie sagt sich: "Ich gebe mich Gott noch mehr hin, ich wage den Sprung blinden Vertrauens in Seine Stärke, die in mir wirken wird ..."
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Re: Franz‘ Kapelle
Daß Thérèse sich für die zweite Möglichkeit entschieden hat, ist ein gutes Zeichen dafür, dass der Heilige Geist sie lenkt. Ihre zweite Bekehrung - die tiefere - führt sie von ihrer persönlichen Aktivität zu einem vollkommenen und beständigen Vertrauen auf Gott. In völlig richtiger Einschätzung der Lage legt sie das Werk ihrer Heiligung in die Hände von Jesus, dem Verwalter des Heiles, der selbst ihre Bemühungen vollenden und sie in der Bank Seiner barmherzigen Liebe anlegen wird. Jesus kommt mit vollen Händen zu Thérèse, die leere Hände hat. Es hat Jahre gebraucht, bis Thérèse klar gesehen hat - nicht theoretisch, sondern in der Praxis -, dass man den Viel-Geliebten nicht erobern kann, sondern daß Er selbst sich schenken will. Er ist der Erlöser und der Retter, Er ist keine Festung, die man einnehmen muss, und auch kein Lohn, den es zu gewinnen gilt.
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Re: Franz‘ Kapelle
Vielleicht muss man zuerst verzweifelt sein, um die Hoffnung zu entdecken. Die wahre Hoffnung liegt jenseits des Traumes. Dann kann sich das Herz auf eine neue Weise öffnen - in einer großen, aktiven und beständigen Erwartung des Herrn des Lebens und der Heiligkeit.
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Re: Franz‘ Kapelle
Die Heiligkeit ist viel eher die Frucht der Empfänglichkeit und der Hingabe als des Strebens und des Eifers. Oder genauer: der Eifer und die Anstrengung sind eine unverzichtbare Bedingung, aber nicht mehr. Das Wesentliche ist Geschenk. In der christlichen Tradition heißt es Gnade (Han Fortmann, Oosterse Renaissance).
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